Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen
Bis 2030 sollen alle Formen der Diskriminierung von Frauen und Mädchen überall auf der Welt beendet werden. Alle Formen von Gewalt gegen und die Ausbeutung von Frauen und Mädchen sollen abgeschafft werden. Kinderheirat, Früh- und Zwangsverheiratung und weibliche Genitalverstümmlung werden abgeschafft. Außerdem sollen Frauen und Mädchen ungehinderten Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und entsprechenden Rechten haben. Des Weiteren sollen Frauen und Mädchen die gleichen Rechte auf und Zugang zu Land, Eigentum und finanziellen Dienstleistungen erhalten.
Zur Vertiefung: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/rechtliche-gleichstellung-841120
In Deutschland geht es, da die rechtliche Gleichstellung bereits besteht, um die tatsächliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern: Dass für gleiche Arbeit der gleiche Lohn bezahlt wird (Entgelttransparenz) und dass mehr Frauen in Führungspositionen gelangen. Ein weiteres Ziel betrifft die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Gleichstellung und Achtsamkeit
Der Waldorfpädagogik geht es im Kern um die freie Entfaltung des Menschen, wobei dieser als geistiges, seelisches und leibliches Wesen angesehen und behandelt wird. Schon daraus ergibt sich der Auftrag, so wenig wie möglich nach geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten zu unterscheiden. Immer schon lernen in der Waldorfschule alle Kinder das Stricken und das Holzwerken: Ein breites Angebot für alle Kinder ist gestalterisches Prinzip dieser Pädagogik. Trotz dieser prinzipiellen „Neutralität“ ist in den letzten Jahren auch der gesellschaftliche Aspekt sozialer Gerechtigkeit unter Einbeziehung der Intersektionalität hinzugekommen, da Waldorfschulen (wie alle Schulen) einen Auftrag zur gesellschaftlichen und politischen Bildung haben. Diesem nachzukommen und dabei das Prinzip der Altersangemessenheit zu befolgen, ist gegenwärtig Gegenstand der Praxisforschung in Schulen und Unterricht.
Zusammenfassend ließe sich der thematische, entwicklungspsychologische Ansatz zur Sexual- und Individualitätserziehung (siehe Buch „Beziehungskunst“ und die Broschüre für Eltern/Lehrkräfte) so zusammenfassen:
Frühe Schulzeit
In der Vorschulerziehung wird über die Vorbildfunktion der Erziehenden bzw. aller im Wahrnehmungsfeld der Heranwachsenden stehenden Personen die Grundorientierung jeglichen Kompetenzerwerbs und damit auch aller Fähigkeiten, die zu einem erfüllten Leben mit der eigenen Geschlechtlichkeit führen, veranlagt. Darauf aufbauend geht es in den ersten drei Schuljahren bezüglich der Sexualität nur in Ausnahmefällen um Kognition, sondern vielmehr um eine spielerisch-künstlerische Erfassung und Einübung von grundlegenden Sozial- und Selbst-(Individual-)Kompetenzen. Dabei achten Pädagog:innen darauf, zwischen archetypischen und stereotypischen Rollenbildern zu unterscheiden.
Vorpubertätszeit
Entsprechend den leiblichen und seelischen Entwicklungsprozessen, die sich zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr abspielen, wächst die Wichtigkeit der erzieherischen Begleitung der Heranwachsenden. Die geschlechtlichen Unterschiede werden nun physisch relevant, in einer großen Streuung setzt bei den meisten Mädchen zwischen dem 9. und 12. (selten früher, häufiger jedoch auch später), bei den Jungen meist ab dem 12. Lebensjahr die sexuelle Reifung ein. Da diese, begleitet von seelischen und mentalen Umbrüchen, am eigenen Leib erfahren wird, ist es Hauptaufgabe der Sexualerziehung, die Selbsterfahrung taktvoll zu begleiten. Altersgerecht muss ein Verstehen der physischen Veränderungen an sich selbst, aber auch an den Mitschüler:innen jeglichen Geschlechts angeregt werden. Gleichzeitig gilt es, die biologisch-hygienischen Prozesse nicht losgelöst von seelischer Entwicklung und zunehmend selbstverantwortlichem Verhalten zu behandeln. Ziel aller Pädagogik ist es jetzt, die Voraussetzung für selbstverantwortetes Handeln sich selbst und anderen gegenüber sowie die Voraussetzung für eine glückende Identitätsfindung in den Heranwachsenden zu veranlagen. Dabei ist eine aktive Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule essenziell.
Pubertätszeit
In der Zeit zwischen dem 12. und dem 16. Lebensjahr liegt das eigentliche Pubertätsgeschehen. Wenn Rudolf Steiner mit dem Begriff Erdenreife nicht nur die Vorgänge der Geschlechtsreife meint, wird damit – und dies entspricht durchaus aktuellen Forschungsergebnissen – neben der biologischen Fortpflanzungsfähigkeit auch die Emanzipation des Innenlebens, das sich auf die eigene Erkenntnisfähigkeit zu stützen beginnt, in die Charakterisierung dieser Entwicklungsphase miteingeschlossen. Deshalb basiert vor allem ab dem 14./15. Lebensjahr Kompetenzentwicklung zunehmend auf der Kognition. Mit anderen Worten: Eigenverantwortung und Selbststeuerung müssen jetzt unter den Bedingungen der erwachten sexuellen Gefühle (Triebe) und der Möglichkeit der eigenen Einsichtsfähigkeit selbst verantwortet werden. Ob Verhütung, Hygieneanforderungen oder Beziehungsfragen, die persönlichen und sozialen Konsequenzen sind von den getroffenen oder zu treffenden Entscheidungen der Heranwachsenden abhängig. Sexualerziehung in der Schule muss dem Aufbau dieser Verantwortungsfähigkeit bzw. dieser Individualkompetenz dienen. Nirgends ist das Spielfeld für Eigenerfahrung so sehr mit biografischen Konsequenzen für die Heranwachsenden und ihre Partner:innen verbunden. Um die Kolportierung von veralteten Rollenbildern zu vermeiden, müssen Pädagog:innen sorgfältig ihre eigene Konditionierung hinterfragen, damit sich die den Schüler:innen vermittelten Umgangsformen, Verantwortlichkeiten und Inhalte auf dem neuesten gesellschaftlichen Stand befinden.
Adoleszenz
Ab dem 16. Lebensjahr setzt nach Abschluss der Pubertätsvorgänge bei vielen der jetzt allmählich erwachsen werdenden Jugendlichen das Bedürfnis nach Bindung und individueller Beziehung ein. Häufig werden Partnerschaften auch sexuell gelebt.
Vereinzelt treten frühe Elternwünsche auf. Lebensformen werden ausprobiert. Die Identifikation mit dem eigenen Körper tritt ein, die eigene Geschlechtlichkeit wird nicht mehr so stark als außengeleitet (Vorbilder), sondern innengeleitet an den eigenen Bedürfnissen erlebt. Damit ist die Voraussetzung gegeben, dass sich Partnerschafts- und Beziehungsfähigkeit unter Einschluss der diesen zugrunde liegenden Kompetenzen in der selbst erfahrenen Realität des Lebens weiterentwickeln. Hier ist es wichtig, Schüler:innen gelebte Akzeptanz diverser Lebensformen zu vermitteln und ihnen das Gleichstellungsprinzip nicht nur vorzuleben, sondern auch kognitiv – ideell erlebbar zu machen.
Kindergarten | Aufbau und Pflege von Beziehungen, Kommunikation und Konfliktlösungen durch rhythmische, verlässliche Abläufe und Vorbildfunktion der Erzieher:innen. |
Erste Schuljahre | Durch Inhalte und deren Vermittlung: Respekt, Toleranz, emotionale Intelligenz, Liebe zu sich selbst und anderen fördern. Soziale Abläufe anlegen, die achtsame und respektvolle Kommunikation ermöglichen (bspw. „Freitagskreis“). |
Mittelstufe | Sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Geburt und Tod, Fruchtbarkeit und Schwangerschaft. Durch eine Sexualkunde-Epoche in der 6. oder 7. Klasse werden Themen wie Fortpflanzung, Sexualität, Menstruation, Homosexualität, Gender-Ausdruck behutsam, aber tabulos thematisiert. In Epochen im Geschichtsunterricht werden aktiv weibliche und diverse Identifikationsfiguren für Schüler:innen gesucht und zumindest implizit die patriarchalisch geprägte Geschichtsschreibung hinterfragt. Das Gleiche wird auch für die Fremdsprachen (Lektüren) und den Deutschunterricht angestrebt. |
Oberstufe | Emotionale und rechtliche Verantwortung, sexuelle Gesundheit, Verhütung, persönliche und soziale Grenzen, Konsens, Übergriffigkeit, Missbrauch, Intersektionalität, Rollenbilder und Machtverhältnisse und Strategien zu deren Überwindung. In Fächern wie zum Beispiel Geschichte und Geografie wird unter Einbeziehung der Schüler:innen an einem sukzessiven Verständnis des patriarchalischen Geschichtsbildes gearbeitet. Bis jetzt unsichtbare (weil weibliche oder diverse) Persönlichkeiten werden dabei in den Vordergrund gestellt, und der historische Feminismus kann in Epochen der 11. Klasse (Antike und Mittelalter) und der 12. Klasse (Neuzeit) behandelt und kontrastiert werden. |
In Waldorfschulen hat es nie eine institutionelle Unterscheidung zwischen verschiedenen Geschlechtern gegeben: Männer und Frauen wurden immer nach den gleichen Maßstäben („interne Gehaltsordnung“) bezahlt und befördert. Trotzdem gab es lange (weil Waldorfschulen Teil der Gesellschaft sind) keine Parität zwischen Frauen und Männern in den Führungspositionen einzelner Schulen, in Ausbildungsstätten und im nationalen Verband, dem Bund der Freien Waldorfschulen. Diese implizite Ungleichheit war aber nie bewusst gewollt und schlug sich auch nicht zum Beispiel in unterschiedlicher Bezahlung nieder. Als moderne Arbeitgeber, und vor allem durch ihre oft angestrebte republikanische oder flache Führungsstruktur, ermöglichen Waldorfschulen heute eine effektive Gleichstellung der Geschlechter. Der gegenwärtige (2024) Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen besteht aus vier Frauen und drei Männern.
Immer häufiger gibt es auch männliche Erzieher in Waldorfkindergärten und weibliche Werklehrer:in in Waldorfschulen. Noch muss man zu lange suchen, um zum Beispiel männliche Lehrer für textile Handarbeit zu finden.
Für Schüler:innen ist die Parität im Lehrplan schon lange Realität: von der ersten bis zur zwölften Klasse nehmen alle an künstlerischen Aktivitäten teil, ohne Berücksichtigung der Geschlechtszugehörigkeit. Die pädagogische Sinnhaftigkeit zum Beispiel des Kreuzstichs in der vierten Klasse, des Korbflechtens in der neunten, des Schmiedens in der zehnten und der Buchbinderei in der elften Klasse ist menschenkundlich (= entwicklungspsychologisch) begründet und ergibt sich nicht aus gesellschaftlichen Notwendigkeiten oder Rollenvorstellungen. Auch in Sport und Eurythmie gilt das Gleichstellungsprinzip, wobei zuzugeben ist, dass die hier unterrichtenden Lehrer:innen manchmal noch unbewusst etablierte Rollenbilder und Zugehörigkeiten verstärken, indem sie zum Beispiel in Eurythmieaufführungen die Rolle von Königen ausschließlich groß gewachsenen Jungen zuteilen und im Sportunterricht manchmal unreflektierte und unnötige Gruppenteilungen nach binären Kriterien vornehmen. Hier ist die Waldorfschule, die sich durch die in ihr aktiven Menschen definiert, auch Teil einer weltweiten Lern- und Entwicklungsbewegung und sollte sich dieser Verantwortung aktiv stellen.
Vom Bund der Freien Waldorfschulen wurde dazu eine Projektgruppe eingerichtet, die die Waldorfschulen in Fragen von Geschlechtergerechtigkeit berät.
Sven Saar: Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschule